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Religion des Marktes

Neoliberalismus contra Soziale Marktwirtschaft

Von Franz Segbers

I. Der homo oeconomicus

Es gibt ein Wesen, das noch nie jemand gesehen hat, von dem jedoch die Ökonomen behaupten, dass er tagtäglich anzutreffen sei. Er würde die Einkaufshäuser bevölkern, unternehmerische Entscheidungen treffen, auf der Börse agieren, kurzum, ein Wesen neben uns und in uns. Die Ökonomen sagen: Wir sind gemeint. Es ist eine Species des homo sapiens, den die Ökonomen erfunden haben. Sie nennen ihn homo oeconomicus. Er sieht aus wie ein Mensch - wenigstens auf den ersten Blick - ist aber in den Gehirnen der Wirtschaftsfachleute gezüchtet worden. Das Problem mit dem homo oeconomicus ist, dass er eine ansteckende Krankheit verbreitet, den bazillus neoliberalis, im Volksmund auch H.O-Wahnsinn, genannt. Mittlerweile sind praktisch alle Ökonomieprofessoren von ihm infiziert. Das war nicht immer so. Nach dem Krieg rühmten sich gerade die Ökonomiefachleute darin, dass sie sagten, der Homo oeconomicus sei ausgerottet worden. Er habe soviel Unheil über die Menschheit gebracht. Sein Bazillus überlebte allenfalls in akademischen Labors. Doch im wirklichen Leben käme er nicht mehr vor. Stellen wir zunächst eine Diagnose dieses seltsamen bazillus neoliberalis, das so viele aus Wirtschaft und Politik infiziert und befallen hat. Man erkennt die vom Bazillus infizierten leicht an zwei typischen Symptomen.

1. Zum ersten leiden sie alle unter einem Denkzwang.

Den Denkzwang nehmen sie nicht wahr. Sie deuten ihn vielmehr als einen totalen Sachzwang. Deshalb sagen sie zu allen Maßnahmen, die sie ergreifen. Wir haben keine Wahl, der Markt zwingt uns. Ich frage: Was genau zwingt uns hier zu was? Der Markt ist ja kein Naturgesetz, sondern ein Instrument oder eine Veranstaltung, die nicht ein Selbstzweck ist, sondern menschlichen Zwecken dient. Mehr Markt! Heißt das Generalrezept. Bei jeder Gelegenheit fordern sie die "Deregulierung" und die "Liberalisierung" der Märkte. Man hört nur immer dasselbe Patentrezept. Mehr Markt: Wenn die Bahn privatisiert ist, wird es besser. Wenn die Post privatisiert wird, wird es besser. Marktlösungen gelten a priori als effizient und zwar merkwürdigerweise pauschal: Es wird weder gefragt, wofür konkret, also für welche Zwecke, noch für wen genau der Markt effizient ist und für wen möglicherweise überhaupt nicht.

Und die Arbeit soll flexibler werden. Auch wenn alle Untersuchungen das Gegenteil beweisen. Die Ladenschlusszeiten müssen flexibilisiert werden. Die Schießung der Geschäfte am Sonntag wird als Relikt längst vergangener Zeiten diffamiert. Freie Ladenschlusszeiten für freie Bürger, heißt das Motto. Gefordert wird deshalb allenthalben: Senkung der Löhne, größere Spreizung der Einkommen, Lockerung des Arbeitsschutzes, Senkung der Sozialhilfe und weitere Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt flexibler, die Einstellung von Arbeitskräften leichter macht.

Die Botschaft ist klar und unmissverständlich: damit sich die Beschäftigung von Arbeitnehmern wieder lohnt, muss die Entstehung einer Schicht von working poor, von arbeitenden Armen hingenommen werden, - denn der globale Wettbewerb zwingt dazu.

Der frühere Vorsitzende von Daimler-Mercedes, Edzard Reuter, beschrieb die Lage folgendermaßen: "Die Zeiten werden nicht lustig. Wir werden amerikanische Verhältnisse bekommen. Auch wenn diese Spaltung zwischen arm und reich vielleicht in den USA akzeptiert wird, in Europa jedenfalls nicht. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft der Demokratie." - So ein Mann, der es wissen muss. Mit anderen Worten: Uns steht eine Drittweltisierung bevor. Ulrich Beck spricht von einer "Brasilianisierung des Westens". Die Zukunft, die uns bevorsteht, wenn wir keinen Widerstand leisten, kann man also besichtigen: Im Süden dieser Erde.

Doch es gibt keine Alternative sagt man uns. So etwa Milton Friedman, einer der einflussreichsten Schüler Hayeks: "Die wirtschaftenden Personen sind letztlich nichts anderes als Marionetten der Gesetze des Marktes." Der Markt wird von Naturgesetzen bestimmt, nicht vom Menschen als einem handelnden Subjekt. Milton Friedman überträgt die Verantwortung des wirtschaftlich tätigen Menschen auf den Markt. Der Markt hat die Stelle des handelnden Menschen als Verantwortungssubjekt übernommen. Die wirtschaftlich Handelnden sind somit ethisch entlastet als "Marionetten der Gesetze des Marktes". Man handelt nicht eigenständig, sondern vollzieht die Gesetze des Marktes. Der Markt ist im Gegenzug zu einem agierenden Subjekt avanciert. Für wirtschaftliche Nöte oder soziale Ungerechtigkeiten gibt es von diesem ökonomischen Denkansatz her keine Verursacher. Das handelnde Subjekt wird zum bloßen Vollstrecker dessen, was sich ohnehin vollzieht. Ökonomische Entscheidungen werden zu Sachzwängen stilisiert, die keiner ethischen oder politischen Legitimation bedürfen. Das Wort von den "Marionetten" oder den Sachzwängen entmoralisiert und entlässt aus der Verantwortung. Es gibt keine Täter, jeder ist nur willenloser Exekutor oder Rädchen in einem großen Getriebe, in dem alle Opfer bringen müssen. Alle müssen mitmachen, da es keine Alternativen gibt. Der Nobelpreisträger und Begründer dieser Wirtschaftstheorie Friedrich August von Hayek illustriert die ethische Entsorgung des ökonomischen Subjekts mit einer Verantwortung für den Ausbruch eines Vulkans. So wenig man einen Vulkan für seine Zerstörung verantwortlich machen könne, so auch nicht den Markt. Ob Arbeitslosigkeit, Hunger, Obdachlosigkeit oder ein Vulkanausbruch - es existiert "kein Subjekt, von dem eine solche Ungerechtigkeit begangen werden kann"(1). Für von Hayek ist es folgerichtig auch ein Kategoriefehler, vom Markt die Erfüllung moralischer Forderungen zu erwarten, weil die Marktwirtschaft ein autonomes, sich selbst steuerndes System darstellt. Markt und Wettbewerb dienen dabei ausschließlich der Lenkung der Wirtschaft, nicht aber der Erfüllung von Gerechtigkeitsnormen. Gerechtigkeit wird als eine Leerformel verstanden, die verzichtbar ist. Deshalb sagt von Hayek lapidar: "Der Ausdruck 'soziale Gerechtigkeit' gehört nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck 'ein moralischer Stein'."(2) Statt dessen gilt eine andere ethische Perspektive: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig."

Der evangelische Theologe Emil Brunner nennt eine solche Ordnung der Wirtschaft völlig zu Recht eine "System gewordene Verantwortungslosigkeit." Das "Marktprinzip" selbst ist die Gewährsinstanz für das ethisch-normativ richtige Handeln. Sich dem Gang einer gleichsam biologisch-evolutiven und ökonomischen Auslese anzuvertrauen, allein darin besteht für die Neoliberalen wirtschaftlich verantwortliches Handeln. Stört man die natürliche Ordnung nicht durch Eingriffe, sind Freiheit und Wohlstandsgewinn Lohn für die Unterwerfung unter die Regeln von Markt und Wettbewerb.

Hier gibt sich ein System alternativlos; es stecke in Sachzwängen, in einem "ehernen Gehäuse" - wie Max Weber sagt. Hinter den Sachzwängen stecken allerdings ethische Vorgaben und handfeste Interessen wie Absichten, die nicht benannt werden. Max Weber hat in seiner protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus die Zweckvorgabe auf den Punkt gebracht: "Sondern vor allem ist das 'summum bonum' dieser 'Ethik' (sic! F.S.): der Erwerb von Geld und immer mehr Geld (...) so rein als Selbstzweck gedacht."(3) Dieses Ziel beherrscht und steuert das, was in ohnmächtiger Manier "Sachzwang" genannt wird. Dieser Sachzwang wird durchbrochen, wenn wir fragen: Wer genau will, dass wir alle das wollen sollen? Und wollen wir wirklich so leben, dass wir alles unter den Primat der Ökonomie stellen? Müssen wir für das Gelderwerben und immer Mehr-Geld-Erwerben alles drangeben. Unsere Familien, wenn Flexibilität gefordert wird, unserer Sonntage, wenn verkaufsoffene Sonntag für den Handel geopfert werden, den aufrechten Gang unserer Kinder, wenn gefordert wird, das allein Leistung zählt.

2. Der Sachzwang wird ins Normative gewendet

Das andere, das zweite Symptom des bacillus neoliberalis besteht darin, dass der Sachzwang ins Normative gewendet wird. Der Sachzwang ist gut und richtig. Was auch immer der Markt oder der Wettbewerb von uns erfordert, es dient letztlich dem Gemeinwohl. Globalisierung ist gut, ein Ende des Ladenschlusses ist gut. Abbau des Sozialstaates, das heißt im Klartext: Abbau von sozialer Sicherheit im Alter, bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit ist gut. Es ist gut, wenn jeder für sich selbst sorgt und der Staat und die Gesellschaft sich heraushalten. Wenn wir jetzt Steuererleichterungen für die Besserverdienenden durchführen, dann bekommen wir morgen dafür Arbeitsplätze. Wenn wir heute den Ladenschluss aufheben, bekommen wir morgen dafür 200.000 Arbeitsplätze. Unterstellt wird eine Reihe von Folgerungen, die Sie immer wieder aus Politikermund hören können: Die Logik, die alles zum Guten wendet sieht folgendermaßen aus:

Die Deregulierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes wird sich 1. in Kostensenkung niederschlagen, die sich 2. Betriebswirtschaftlich rechnet, das soll 3. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, diese wird wiederum 4. Die Exportsteigerung erhöhen und dadurch 5. das Wirtschaftwachstums erhöhen und schließlich werden dadurch 6. Arbeitsplätze und mehr Wohlstand für alle herauskommen. Hinter dem behaupteten Sachzwang steckt eine politisch gewollte und politisch durchgesetzte Dominanz der Ökonomie. Die Logik der Ökonomie soll das Sagen haben. Ihr gegenüber haben alle anderen Lebensinteressen zurückzustehen. Alles wird dem ökonomisch in Stellung gebrachten Standortvorteil dienen.

II. Die religiöse Tiefenstruktur

Die unerschütterliche Gewissheit, die mit dieser Politik verfolgt und als einzig wahr verkündet wird, erinnert an eine gleichsam religiöse Heilsgewissheit. Es ist auch ein Glaube, der diese Sicherheit begründet. Ein Glaube verbirgt sich hinter dem Begriff und dem Vertrauen auf die "unsichtbare Hand". Immer wieder begegnen wir dieser Begründungsformel. So schreibt zum Beispiel der Herausgeber der WirtschaftsWoche, Stefan Baron, in einem Kommentar über die zunehmende Spaltung zwischen den Löhnen, die die Beschäftigten bekommen und der Gewinnbeteiligung der Topmanager: "So bewirkt die unsichtbare Hand des Marktes, dass Topmanager, die scheinbar unsozial und egoistisch die Maximierung des Gewinns und damit ihrer Bezüge verfolgen, gleichzeitig auch das Gemeinwohl mehren." (4) Oder Jürgen Jeske von der Wirtschaftsredaktion der FAZ. Er spricht angesichts des Finanzdramas in Mexiko, das Abermillionen Menschen in Not und Elend gestürzt hat in einem Kommentar von dem "schonungslose(n) Walten der unsichtbaren Hand" (5).

Woher stammt der Begriff? Welche Traditionen verbergen sich in ihm? Der Begriff stammt von Adam Smith, dem Begründer der modernen Marktwirtschaft. Kaum mehr bekannt ist allerdings, dass Adam Smith wirklich einen theologischen Hintergrund angesprochen hatte, als er den Begriff der unsichtbaren Hand prägte und verwendet. Eine unsichtbare Hand, die - wie er sagt: "Gutes aus Bösem schafft". Smith sah in der Welt ein göttliches Wesen wirksam, "dessen Wohlwollen und Weisheit seit aller Ewigkeit die ungeheure Maschine des Weltalls so ersonnen und gelenkt hat, dass sie zu allen Zeiten das größtmögliche Maß von Glückseligkeit hervorbringe." (6) Dieses göttliche Wesen ist nicht der christliche Gott, sondern die Weltvernunft der Stoa. Eine "Vorsehung" leite in Güte das Weltgeschehen. Ihr sei es deshalb zu verdanken, dass egoistisches Verhalten in Gemeinwohl umgewandelt werde. Der Glaube, dass eine "unsichtbare Hand" dafür sorge, dass der marktwirtschaftliche Egoismus letztlich doch zu einem Gemeinwohl sich summiert, ist Teil einer deistischen, nicht einer christlichen Theologie. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Adam Smith in der überarbeiteten Fassung seines philosophischen Hauptwerkes "Theorie der ethischen Gefühle" nicht nur alle früheren Hinweise auf das Christentum gestrichen hat. Er begründet seine Überzeugung allein mit dem Hinweis auf die antike Stoa.

Was ist die Konsequenz dieser Feststellung? Nichts anderes als dass die Ökonomie und die Vertreter der Ökonomie, die sich so unerschütterlich auf die unfehlbare Richtigkeit der Marktgesetze berufen, auf der heidnisch-antiken Theologie der Stoa gründen. Wir haben es also hier mit einer Glaubensgemeinschaft zu tun. Diese religiöse Begründung, die Adam Smith so unerschütterlich an das gute Ergebnis der Kräfte des Marktes glauben ließ, ist heute völlig unbekannt. Doch der Glaube selber besteht weiterhin ungebrochen und unerschütterlich in säkularer Gestalt fort. Alexander von Rüstow, der Begründer jener wirtschaftstheoretischen Richtung, die man später Soziale Marktwirtschaft nennen sollte, nennt diese Ökonomen, die sich auf das Paradigma der unsichtbaren Hand beziehen, "Gläubige einer falschen deistischen Theologie" (7). Auch Alfred Müller-Armack, den das Sozialwort der Kirchen als Gewährsmann für die Soziale Marktwirtschaft zitiert, wendet sich gegen jede "Idolbildung" - und was sind Idole anderes als Götzen? Die Metapher "unsichtbare Hand" ist also genau jene Begründungsinstanz für ein geradezu religiöses Vertrauen auf die Funktionsfähigkeit des Marktes.

Theologie und Kirche bekommen angesichts dieser Wiedergeburt der Idole und Götzen eine wichtige ideologiekritische Aufgabe. Das Wiederaufleben der Rede von einer "unsichtbaren Hand" zeigt, dass der Neoliberalismus auf den Stand einer religiös begründeten Weltanschauung zurückgefallen ist. Das Glaubensmotiv der "unsichtbaren Hand" ist in säkularisierter Form zurückgekehrt. Der Neoliberalismus ist also keineswegs neu. Er ist sehr alt und knüpft heute lediglich in säkularer Sprache an der weltanschaulich-metaphysischen Begründung des längst überwunden geglaubten Manchesterliberalismus an. Wir haben es mit einem Widerstreit auf zwei Ebenen zu tun: auf einer ökonomischen und einer theologischen. Ökonomie stehen einander gegenüber, aber auch der Glaube an Gott und den Götzen.

III. Kapitalismus gegen Kapitalismus

Diese Vergötterung des Marktes, man kann auch sagen, diese heidnisch-stoische Wirtschaftstheologie feiert heute in einer von ihren geistes- und theologiegeschichtlichen Ursprüngen abgespaltenen Denkhaltung fröhliche Urstände: Im Denkmuster des Neoliberalismus. Dieses Denken der Unausweichlichkeit ist Teil einer heftigen Auseinandersetzung in der Ökonomie, die zwischen zwei grundlegend verschiedenen Ausprägungen des einen weltweiten Kapitalismus ausgetragen wird. Mit dem französischen Ökonomen Michel Albert (8) lassen sich zwei Gestalten des Kapitalismus unterscheiden:

  • die "bewusst sozial gesteuerte Soziale Marktwirtschaft" (Müller-Armack) oder auch der "Rheinische Kapitalismus"; diese Wirtschaftsordnung ist eingebettet in die Gesellschaft. Staat und Verbände greifen in den Markt ein, um unsoziale Entwicklungen im Vorhinein zu verhindern oder aber um sie im Nachhinein abzufedern;
  • der "Neo-amerikanische Kapitalismus" des neoliberalen totalen Marktes, der seit Reagan und Thatcher gegen den Wohlfahrtsstaat und den Sozialstaat zu Felde zieht. Der homo oeconomicus, ein Mensch, der allein auf seinen wirtschaftlichen Nutzen bedacht ist, wird hier zur gesellschaftlichen Leitfigur. Das Soziale wird als eine Eingrenzung der Freiheit des Marktes verstanden. Mehr Mut zum Markt oder Mehr Markt - weniger Staat; Leistung muss sich wieder lohnen - sind die Schlagworte dieses Wirtschaftsstil.

Man muss genau hinsehen, was gemeint ist, wenn von Sozialer Marktwirtschaft die Rede ist. Es kann ja auch Etikettenschwindel geben. Vor einiger Zeit hat die Jugendorganisation der SPD einige Zitate für ein Memorandum für die Soziale Marktwirtschaft zusammengestellt. Stoiber wollte nicht unterschreiben, der Ministerpräsident Teufel von Baden Württemberg auch nicht. Die Vertreter der deutschen Wirtschaft lehnten eine Unterschrift ebenfalls ab. Denn - so hieß es - wer dies fordere, was dort in dem Memorandum stehe, der wollte nichts anderes als Sozialismus durch die Hintertür. Was war geschehen. Man hatte Zitate von dem Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Erhart, dem Begründer der Sozialen Marktwirtschaft, zusammengestellt. Das zeigt, wie sehr sich die Positionen bei denen verschoben haben, die Politik und Wirtschaft das Sagen haben.

Nell-Breuning [Red.: Jesuit; Nestor der katholischen Soziallehre] war immer schon skeptisch. Das Gerede von sozialer Marktwirtschaft nannte er eine Begleitmusik für eine ganz andere Musik, die tatsächlich gespielt wurde. Die Kirchen haben in ihrem Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland mit ihrem ebenso deutlichen Ja zur Sozialen Marktwirtschaft wie entschiedenen Nein zu einem "Kapitalismus pur" eine klare Position zu diesen Wirtschaftsstilen bezogen, hinter denen jeweils auch zwei verschiedene Menschen- und Gesellschaftsbilder, aber auch Ethiken und Theologien stehen. Der Neoliberalismus ist trotz seiner möglichen ökonomischen Effizienz sozial skandalös, politisch verheerend und ethisch unerträglich.

Der Wettbewerb am Markt ist dann nichts weiter als der gesellschaftliche Ausdruck der natürlichen, biologischen Selektion. Eine Ökonomie mit solchem Selbstverständnis immunisiert sich gegen jede Infragestellung und macht sich unveränderbar; politisch nicht gestaltbar, erlaubt sie keine Alternativen. Sich dem Gang der biologisch-ökonomischen Auslese anvertrauen, nennen die Neoliberalen wirtschaftlich-verantwortliches Handeln. Stört man die natürliche Ordnung nicht durch Eingriffe, ist Freiheit und Wohlstand Lohn für die Unterwerfung unter die Regeln von Markt und Wettbewerb.

In ihrem Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland setzen sich die Kirchen deutlich genau von diesen neoliberalen Grunddogmen. "Manche würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein." (Ziff.2) Die Kirchen dringen darauf, dass die Marktwirtschaft "auf ethischen Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewähren können"(Ziff. 129), basiert und nicht einfachhin eine quasi naturgesetzliche Selektion der Stärkeren exekutiert.

Bundespräsident Johannes Rau hat in diesen Tagen anlässlich der Verleihung der Hans-Böckler-Preises am 13.10.2000 gesagt:

Viele sagen, mit dem Jahre 1989 sei das Jahrhundert der Ideologien zu Ende gegangen. Das sehe ich nicht so, denn diese Aussage ist selber ein Stück Ideologie. Ja, vielerorts haben sich ein Denken und eine Haltung etabliert, die man durchaus als neue Ideologie kennzeichnen kann. Ich meine den Anspruch, alle Lebensbeziehungen, alle Interessen der Gesellschaft und Staaten den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen. Gewiss: Für die wirtschaftliche Welt ist der Markt unverzichtbar. Und innerhalb des Rahmens der sozialen Marktwirtschaft hat er uns insgesamt großen Wohlstand gebracht. Aber nun scheint der unbeschränkt, globalisierte Markt weiter zu greifen und mehr erfassen zu wollen als die Wirtschaftswelt. Seine Herrschaft scheint alles in Frage zu stellen, was bisher Gewicht und Bedeutung hatte: Kulturelle und regionale Identität, nationale Souveränität, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen und Wertorientierungen. Die Ökonomie, der Wettbewerb scheint das einzige Koordinatensystem zu sein, das über Wert und Unwert von Ideen und Plänen, von Projekten und Orten bestimmt. Es wird manchmal so getan, als gebe es keine anderen tauglichen Maßstäbe mehr für das Zusammenleben der Menschen als die ökonomische Rationalität. Dieses Denken und eine Praxis, die sich daran orientiert, trägt Züge einer Ideologie, die Demokratie und soziale Stabilität gefährdet.
Rau hat Recht. Doch wir haben es nicht allein mit einer Ideologie zu tun. Die Überzeugung, mit welche diese Haltung gelebt und durchgesetzt wird, trägt Züge einer religiösen Überzeugung.

Die Sprache verrät die religiöse Überzeugung: So bestaunt Friedrich-August von Hayek den sich selber regulierenden Markt als ein "Wunder". (9) Die dem Menschen entsprechende Haltung gegenüber den Marktgesetzen nennt Hayek eine "Demut gegenüber den Vorgängen" (10) des Marktes. Sich den undurchschaubaren Kräften des Marktes zu unterwerfen, habe in "demütiger Ehrfurcht, die die Religion ... einflößte", ein Vorbild zu nehmen. Die geforderte Haltung gegenüber dem Markt vergleicht Hayek mit einer Haltung des Vertrauens und der Demut, wie sie ansonsten im Bereich des Religiösen anzutreffen sei.

Für viele neoliberale Ökonomen der Neuzeit wird der Markt zu einer Instanz, die sie gläubig verehren und preisen, damit er die ihm modelltheoretisch unterschobenen Wunder tue und die "Sünden" der Wirtschaftsplaner, -lenker, Politiker und besonders der Gewerkschaften eliminiere. Zugespitzt formuliert: Was für den Christen Gott ist, ist für viele neoliberale Ökonomen der Markt. Dass Ökonomie die Stelle der Religion einnehmen kann, befürchtet auch der Schweizer Ökonom H. Ch. Binswanger. "Die Wirtschaft gewinnt damit den transzendenten, dh. grenzüberschreitenden Charakter, den die Menschen früher in der Religion gesucht haben."(11) In der heutigen Welt herrscht ein Glaube an die freie Marktwirtschaft vor. Das Glaubensbekenntnis der Wettbewerbsfähigkeit hat seine Evangelisten, Theologen, Priester und, natürlich, Gläubige. Die Evangelisten sind jene Tausende von Wirtschaftswissenschaftlern und Experten aus den USA, Westeuropa, die den quasi naturgesetzlichen Charakter der Prinzipien und Mechanismen der modernen kapitalistischen Marktwirtschaft kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität kodifiziert und etabliert haben. Priester des Wettbewerbskultes gibt es zu Tausenden in aller Welt. Die Unternehmens- und Managementsberater sind die gläubigsten Priester und die am besten ausgestatteten. Die Lehre und die Verbreitung des Credos beschert ihnen eine äußerst profitable Einkommensquelle. Und Opfer fordert das System. Ganze Kontinente werden geopfert. Auch die Schöpfung muss ihre Opfer bringen, damit der Gott des Kapitalismus sein Wohlgefallen hat...

Zentraler theologischer Begriff ist das gläubige Vertrauen - auf eine unsichtbare Hand der Güte.

Der erste Glaubenssatz lautet: Außerhalb des Marktes gibt es kein Heil

Die "unsichtbare Hand" des Marktmechanismus wird zu einer steuernden und optimal ordnenden Zuverlässigkeit, auf die Verlass ist. Ihr kann vertraut werden. Wie in der Religion Gott dem Einfluss des Menschen entzogen ist, so ist auch der Markt dem Einfluss des Menschen entzogen. Wenn Menschen also nur in einer Haltung der Demut den Vorgängen des Marktes Vertrauen schenken, dann werden sie gewisslich von dem effizienten Markt mit Wohlfahrtsgewinn belohnt - eben wie von einem guten Gott. - So lautet der Glaube an den Götzen Markt. Der Neoliberalismus ist eine Weltanschauung, nicht lediglich eine ökonomische Theorie. Wie jede Weltanschauung ist er um eine normative Basis bemüht. Im Zentrum steht ein unerschütterlicher Glaube an den Markt. Wer ihn angreift, begeht ein Sakrileg - eine Gotteslästerung. Er verspielt sein Heil. Das Glaubensbekenntnis der Neoliberalen enthält zwei Glaubensartikel.

Der zweite Glaubensartikel lautet: "Der Markt zwingt uns."

Es gibt keine andere Wahl und keine Alternative. Der Markt erlaubt die bisherigen Löhne nicht mehr. Den Sozialstaat, eine Vollbeschäftigung können wir uns nicht mehr leisten. Alle müssen mitmachen, da es keine Alternativen gibt. Der Neoliberalismus ist eine systemgewordene Verantwortungslosigkeit, bar jeder ethischen oder politischen Gestaltungsmacht. Sich dem Gang einer gleichsam biologisch-evolutiven und ökonomischen Auslese anzuvertrauen, allein darin besteht für die Neoliberalen wirtschaftlich verantwortliches Handeln. Stört man die natürliche Ordnung nicht durch Eingriffe, sind Freiheit und Wohlstandsgewinn Lohn für die Unterwerfung unter die Regeln von Markt und Wettbewerb.

Der dritte Glaubensartikel spricht eine Verheißung an: "Auf wundersame Weise verwandelt eine unsichtbare Hand alles zum Guten."

Was immer es sei, wozu der Markt alternativlos zwingt, letztlich dient es dem Wohl. Soziale Errungenschaften oder ökologische Standards sind ein Standortnachteil, der zum Wohl der Menschen geopfert werden muss. Heute müssen Menschen entlassen werden, damit es morgen Arbeit für alle gibt. Die neoliberale Verheißung lautet: das heutige Opfer heute bringt das morgige Heil. Das Opfer versöhnt den Markt und macht ihn uns wohlgesonnen. Der Markt ist ein guter Gott: Wenn wir uns in Demut dem Markt unterordnen, wenn wir bereit zu Opfer und Härten sind, dann wird das Heil kommen. Die unsichtbare Hand des Marktes wirkt wie die Güte Gottes.

Der bedeutende katholische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning hat sich gegen ein Denken gewandt, nach dem die Postulate zur Gestaltung des Wirtschaftslebens aus dem Wirtschaftsdenken selber gewonnen werden. Er sagte, dass die "Maßstäbe, nach denen die Wirtschaftspolitik sich auszurichten hätte, nicht aus der Wirtschaft selbst gewonnen werden können." (12) Wenn jedoch die Wirtschaft Maßstäbe hat, die aus der Wirtschaft selber stammen, dann liegt ein sogenannter Ökonomismus vor, ein Zirkeldenken, bei dem dann nur ökonomische Kriterien gelten. Im Neoliberalismus liegt jedoch genau dieses Zirkeldenken vor. Die Ökonomen sprechen von einem "Ökonomismus". Theologisch ist genau das angesprochen, was wir in theologischer Tradition "Mammonismus" nennen. An dieser Stelle ein kleiner erhellender Exkurs. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon, klärt Jesus den Zusammenhang.

Was aber bedeutet Mammon genau? Ein Blick in die Herkunftsgeschichte des Begriffs ist aufschlussreich. In seiner Studie "Charakter und Analerotik" gibt Siegmund Freud einen Hinweis: "...jedermann vertraut ist die Figur des 'Dukatenscheissers'. Ja, schon in der altbabylonischen Lehre ist Gold der Kot der Hölle, Mammon = ilu man man." Freud selber verweist auf den Theologen M. Jeremias, der in seinem Werk "Babylonisches im NT" schreibt:" Mammon ist babylonisch man-man, ein Beiname Nergals, des Gottes der Unterwelt. Das Gold ist nach orientalischem Mythos, der in die Sagen und Märchen der Völker übergegangen ist, Dreck der Hölle." Auffallend ist, dass diese Erklärung des Namens in allen führenden Lexika fehlt. Warum wohl? Weil Gold und Geld einfach nicht Teufelsscheisse sein dürfen?

IV. Gott gegen Gott: "Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon."(Mt 6,24)

Eine ethische Kritik reicht nicht aus, wenn wir es mit einer tiefgründigen, heimlichen Religion des Marktes zu tun haben, die von uns Kniefälle verlangt. Theologisch gesprochen haben wir es mit Götzendienst zu tun, wenn etwas anderes als Gott von uns gläubige Verehrung verlangt. In der Enzyklika "Sollicitudo rei socialis"(1988) prangert Papst Johannes Paul II. Entscheidungen in Wirtschaft und Politik an, die in ihrer Gier nach Profit "wahrhafte Formen von Götzendienst verbergen"(Ziff. 37) und warnt in der Enzyklika "Centesimus annus"(1991) vor der "Gefahr einer "Vergötzung" des Marktes"(Ziff 40) und "daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die ... ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überlässt"(Ziff 42).

Leben wir nicht in einer aufgeklärten Zeit, die mit dem Glauben an Gott auch den Glauben an die Götzen beiseite geschoben hat? Was in der biblischen Tradition "Götze" genannt wird, wurde im Zuge der Aufklärung als vormodern beseitig. Da man meinte, Götzen gäbe es nur in der Gestalt eines Baal oder eines Moloch, konnte man die Götzenfunktion nicht sehen. Doch es kann auch Götzen geben, die nicht die Gestalt von Baal oder Moloch haben. Wenn wir aufzeigen, wie sich Götzen verborgen halten und erwartet wird, dass man ihnen huldigt, dann bedeutet dies keineswegs, die Ökonomie zu dämonisieren oder zu theologisieren. Umgekehrt - die Rede von Gott und den Götzen will einen Beitrag zu einer sachlichen Klärung leisten. Die Sachfrage lautet: Auf wen oder was wird das unbedingte Vertrauen in eine gute Zukunft gesetzt? Wer oder was ist Objekt der Hingabe? Erich Fromm definiert Religion als "jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet." (13) Diese Definition von Religion ist weit genug, alle Phänomene einzubeziehen, bei denen es ein "Objekt der Hingabe" gibt. Der Inhalt der Hingabe ist keineswegs spezifisch. Objekt können Tiere, Bäume, ein unsichtbarer Gott, eine Klasse oder eine Partei, Geld, Erfolg, der Markt oder ein Fußballverein sein. Wichtig ist ein Unterscheidungskriterium von Religion: Religion kann den Hang zur Destruktivität oder die Fähigkeit und Bereitschaft zu Liebe und Solidarität fördern. Der Götzenbegriff ist demnach die Antwort auf eine Sachfrage. Die biblische Götzenkritik erfüllt eine aufklärende Funktion, indem sie klärt, wo der Name Gottes für etwas, was nicht Gott ist, benutzt wird. Aufklärung im Erbe des biblischen Götzenkriteriums kann einen objektiven Blick auf die Alltagsreligion geben. Sie demaskiert, wo in einer Gesellschaft Götzen als Gott verehrt werden. Wenn eine theologische Wirtschaftsethik sich also diese Kategorien und Einsichten zu eigen macht, die der biblischen Götzenkritik entstammen, dann erfüllt sie eine ideologiekritische Funktion.

Der religiöse Akt des Vertrauens kann sich auch auf anderes als auf Gott beziehen. Erich Fromm sagte:

In unserer eigenen Kultur bilden die monotheistischen Religionen und ebenso atheistische und agnostische Philosophien einen dünnen Firnis über die Religionen, die in mancher Beziehung weit 'primitiver' sind als die indianischen, und die als reiner Götzendienst mit den wesentlichen monotheistischen Lehren sogar noch weniger vereinbar sind. Als kollektive und mächtige Form modernen Götzendienstes finden wir die Anbetung der Macht, des Erfolgs und der Autorität des Marktes. (14)
Ausdrücklich kritisiert Erich Fromm hier ein Verhalten, das sich der Autorität des Marktes unterwirft oder anvertraut. Die Götzen der Moderne heißen nicht mehr Baal und Astarte, und - das ist gerade in einer sich säkular verstehenden Kultur von entscheidender Bedeutung - sie gehören nicht zu einer bestimmten fremden "Religion"; ganz im Gegenteil, sie tragen respektable Namen und geben sich rational. (15) Diese vermeintliche Rationalität oder Säkularität erschwert es, diese Mächte als "Götter" im biblischen Verständnis zu durchschauen und in den Alltagsmythen zu erkennen.

Ökonomen verwenden theologische Begriffe wie "Demut", "Wunder des Marktes", "Glaube an den Markt", "Vertrauen", "Götzendienst" zur Legitimierung der neoliberalen Theorie. Diese massierte Verwendung theologischer Begriffe ist aber nicht nur in einem analogen Sinn zu verstehen, vielmehr handelt es sich um das Phänomen einer Religion, nämlich einer Religion des Marktes. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff des Vertrauens, von dem bereits Martin Luther sagte, dass es beides begründe: den Glauben an Gott und den an den Abgott. Die "unsichtbare Hand" des Marktmechanismus wird zu einer steuernden und optimal ordnenden Zuverlässigkeit, auf die Verlass ist. Ihr kann vertraut werden. Wie in der Religion Gott dem Einfluss des Menschen entzogen ist, so ist auch der Markt dem Einfluss des Menschen entzogen. Wenn Menschen also nur in einer Haltung der Demut den Vorgängen des Marktes Vertrauen schenken, dann werden sie gewisslich von dem effizienten Markt mit Wohlfahrtsgewinn belohnt - eben wie von einem guten Gott. - So lautet der Glaube an den Götzen Markt.

V. Lebensdienliche Ökonomie - eine Gesellschaft, in der alle Platz haben

Die Grundorientierung an einer Gesellschaft, die niemanden ausschließt und in der alle eine Platz haben, kritisiert diese Glaubensgewissheit zunächst durch eine negative Formulierung: Sie behauptet, nicht zu wissen, welche Gesellschaftsform die richtige ist. Stattdessen stellt sie nur ein einziges universal geltendes Kriterium auf: alle müssen Platz haben; niemand darf ausgeschlossen werden. Das Kriterium entscheidet darüber, welche Gesellschafts- oder Wirtschaftsordnung sozialethisch erträglich ist. Das Versprechen des Neoliberalismus wird auf seinen gültigen universalen Kern hin befragt: Wer ist ausgeschlossen? Wer ist der Verlierer?

Wurzeln hat dieses Kriterium in der alten und langen Denktradition der biblischen Überlieferung von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit meint hier nicht die Zuteilung dessen, was jedem nach einem gerecht zu nennenden Maßstab zukommt. Gerechtigkeit bezeichnet in der biblischen Überlieferung ein "gemeinschaftsgemäßes Verhalten". Was dieses gemeinschaftsgemäßes Verhalten stört, wird dabei nicht aus der Sicht der Täter, sondern der Opfer gesehen. Deshalb meint die Bibel, wenn sie von Gerechtigkeit spricht, alles, was der "Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedrohten" nutzt. Vorrang haben deshalb die Armen, die Schwachen und Opfer eines Systems. An ihnen entscheidet sich, ob ein System erträglich ist. Die Option für die Armen nimmt aus der Optik der Armen das System wahr. Seine Schwächen zeigen sich an den Schwachen. Was die Gerechtigkeit nennt, lässt sich mit dem neuzeitlichen Verständnis von Solidarität zur Sprache bringen. Deshalb ist die Option für die Armen ein Schlüsselbegriff christlicher Orientierung. Er besagt: Deine eigenen Vorstellungen von einem guten Leben darfst du nicht auf Kosten anderer durchsetzen. Umgekehrt: Die eigenen Vorstellungen von guten Leben müssen einem Lackmustest ausgesetzt werden: Nutzen oder schaden sie den Armen und Schwachen?

Eine Gesellschaft ist so zu gestalten, dass jeder und jede einen Platz hat. Nicht die Systemdebatte ist also entscheidend, sondern das sachliche Kriterium der Lebensdienlichkeit. Wirtschaft soll dem Leben dienen und die menschlichen Bedürfnisse decken. Den die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft. Was nutzt, was schadet dem Menschen und besonders den Armen, den Schwachen und den Opfern, oder allgemeiner: Was steht im Interesse des Lebens der Menschen, der geschaffenen Welt, der Schöpfung?

Die Kirchen beziehen sich in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort auf das bewährte Modell einer Sozialen Marktwirtschaft zurück, die ökologisch und global verantwortet ist. Eine Erinnerung an den Altmeister der Katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning kann hier erhellend sein. Sehr zum Verdruss von Müller-Armack hat er Anfang der fünfziger Jahre davon gesprochen, dass der Marktwirtschaft nur "auf Kredit" das Attribut "sozial" zuzuerkennen sei. Vierzig Jahre später kam er dann zu dem Sachurteil: "Der soziale Gehalt der Sozialen Marktwirtschaft hat sich als reichlich mager erwiesen." Wann verdient denn eine Wirtschaft das Attribut "sozial befriedigend"? Noch einmal Nell-Breuning:

Als 'sozial-befriedigend' können wir eine Wirtschaft erst anerkennen, wenn sie so geordnet ist, dass jeder Mensch Subjekt des Sozialprozesses der Wirtschaft ist und kein bloßes Objekt. Dem Arbeitswilligen, der weil es unrentabel ist, ihn zu beschäftigen, gekündigt und auf die Straße geworfen wird, gibt die Wirtschaft deutlich genug zu erkennen: du bist bloßes Objekt. 'Sozial befriedigend' geordnet ist die Wirtschaft also beispielsweise nur dann, wenn dafür gesorgt ist, dass der Arbeitsfähige und Arbeitswillige Arbeits- und Verdienstgelegenheit findet. ... Dazu bedarf es spezifischer Lenkung der Wirtschaft durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik. Ferner muss der Mensch im Produktionsprozess der Wirtschaft seiner Menschenwürde gemäß eingesetzt sein. ... Endlich müssen am Ertrag der Wirtschaft alle in einer Weise beteiligt sein, dass die Verteilung als 'sozial gerecht' bezeichnet werden kann. (1956)
Nell-Breunings Urteil aus dem Jahr 1956 ist eindeutig: Trotz aller Temperierung bleibt das alte Problem des Kapitalismus: Konzentration des Produktionsvermögens in den Händen weniger -die immer weniger werden!-, Ausschluss der Arbeitnehmer vom Kapitaleigentum und Degradierung zum Objekt des Produktionsprozesses. Der Neoliberalismus ist im Kern der modernisierte alte Kapitalismus mit weltweitem Anspruch.

VI. Was tun?

1. "Kann unser Land nur überleben, wenn es sich dem 'Gebot' der Marktwirtschaft unterzieht?" fragen die Kirchenführer der Schweiz. Das Schweizer Kirchenpapier nennt den Neoliberalismus einen Mythos. Man verlangt von uns eine Alternativlosigkeit zu akzeptieren. Man tut so, also hätten wir in einer globalen Welt keine Chancen zu Gerechtigkeit. Nötig ist, dieses alternativlose Denken als Marktvergötterung zu durchschauen. Niemals dürfen wir uns damit einverstanden erklären, dass das ökonomische Denken unser ganzes Leben überwölbt. Die einfache Wahrheit, der wirtschaftsethische Basissatz ist in Erinnerung zu rufen: Wirtschaft gibt es nur, weil es Menschen gibt; sie ist vom Menschen und für den Menschen geschaffen. Die Wirtschaft ist ein Mittel; Zweck der Wirtschaft ist es, dafür zu sorgen, dass die Güter bereitgestellt werden, die zu einem guten Leben und gerechten Zusammenleben dienlich sind.

2. Wie die Kirchen in Deutschland wollen auch die Schweizer Kirchen sich auf die biblischen Traditionen zurückbeziehen, um ein wirtschafts- und sozialethisches Urteil zu gewinnen. Zwar könne die Bibel keine Rezepte geben. "Wohl aber bieten uns das biblische Erbe, der Glaube an Jesus Christus und die Erinnerung an sein Wirken andere Kriterien, Ziele und Werte für die Gesellschaft an, als dies die Sachzwänge und Mythen der Marktwirtschaft tun." Die Bibel in ihrer Fremdheit besitzt also geradezu eine Chance, in Alternativen zu denken und das Existierende nicht als das einzig Mögliche zu verstehen.. Die Bibel kennt eine Logik der Gerechtigkeit, die an den Bedürfnissen des Menschen Maß nimmt. Wer sich auf diese Logik einlässt, gewinnt einen neuen Blick.

Zum Autor:
Dr. Franz Segbers ist Studienleiter an der Evangelischen Sozialakademie Friedewald und alt-kath. Priester. Wir danken ihm für die mögliche Aufnahme dieses Textes (Vortrag in Linz Quinquennalkurs 17.10.2000) auf der Homepage. Wir empfehlen die neue Auflage seines bahnbrechenden Buches: F. Segbers: Die Hausordnung der Tora. Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik. Luzern 2002. (Verlag: Exodus)

Anmerkungen:

Seite zuletzt geändert: 2002-11-06 wk.
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